Feldpostbriefe des Infanterie-Soldaten des IR17(Braunschweig) Otto Streit an seinen Schulfreund Lw-Soldat des KG40 Hans-Joachim Klein

Der Krieg ist zu seinem Wendepunkt gekommen. Die Vorstellungen eines Blitzsieges über Sowjetrussland sind lange begraben. Zwei harte Winter und der ins Stocken geratene Vormarsch der Wehrmacht haben zur Ernüchterung der Soldaten geführt. Kampfflieger Hans-Joachim Klein liegt in einem Lazarett in Berlin-Marienfeld - für's Leben gezeichnet. Zur gleichen Zeit befindet sich sein Freund Otto Streit in der sowjetischen Wolchow Region, wo er an den Kämpfen teilgenommen hat. Erschüttert schreibt er von dem Hunger der von der Wehrmacht eingeschlossenen sowjetischen Zivilbevölkerung, die aus Verzweiflung zu Kannibalen geworden sind.



Streit, 19028                       8.7.42.

Lieber Hansi!
              Aus all den Seiten Deines letzten
Briefes spricht eine seelische Qual. Nur zu gut
kann ich es verstehen, wie Dich das alles bedrückt,
denn voller Idealismus hingst Du an einer Sache, warst
mit einem fast kindischen Eifer dabei u. ein derartiger
Unglücksfall zwingt Dich, all das zu verlassen, worin
Du Deine Aufgabe für Dein Volk gefunden hattest, um am
Ende hinter den Mauern des Lazaretts dem weniger
rosigen Fortschreiten der Krankheit zuzuschauen. Nichts
wird wohl einen Menschen mehr bedrücken, als der Glaube,
im Leben nicht wieder ganz gesund zu werden.
Umso mehr verspürt man all das Beengende u. lernt diese
so armseeligen Kreaturen von Heimatkriegern hassen, die
da glauben mit ihrer Macht verwundeten Soldaten das Leben
noch schwerer zu machen. Ach, ich kenne das. Man muß
schon ein starkes Herz haben, um all die psychischen
u. seelischen Qualen zu ertragen. Und ich glaube, daß Du
es hast u. trotz alledem nicht verzweifelst. Wie oft, wenn
unsere Kampfflieger, gerade in den schwierigen Sumpf=
gebieten, uns im Kampfe unterstützten, dachte ich an
Dich, Hansi. Es war eine Lust, zu sehen, wie sie die
Feindbomber herunter holten, oder wie sie heulend die Bomben
in den Kessel warfen. Hansi, gib die Hoffnung nicht auf,
einmal muß ich auf Urlaub kommen, dann werde ich Dich
bestimmt aufsuchen. Eine Parole lautet ja, daß bis Ende September
alle durch sein sollen, aber ich denke vor Weihnachten nicht daran.
Denn bis jetzt sind es noch 70 Mann, die 15-20 Monate
nicht auf Urlaub waren. Na, u. ich war ja 'erst' im August
1941. - Die Zigaretten habe ich selbstverständlich erhalten u.

habe Dir aber auch schon darauf geschrieben. Auch
die 'Judenbuche' erhielt ich. Ich fand sie als eine recht
gut zu lesende Erzählung, die einen alles gut mit er=
leben ließ. Habe vielen Dank, aber stürze Dich bitte nicht
wieder in Unkosten. Wenn Du aber gern mal irgend welche
Literatur haben möchtest, die Du in Berlin nicht mehr
bekommst, schreibe mir, ich habe sehr gute Beziehung
zu einer großen Braunschweiger Buchhandlung. Ich
könnte es Dir dann schicken lassen. Wenn ich
Dir mal einen kleinen 'Reklam' schicke, bewahre den
bloß nicht auf, das lohnt sich denn doch nicht.
              Z.Zeit hocke ich an einem Bach in
einigem Abstand hinter der Front. Einmal ruhig
in die Sonne legen kann man gar nicht, denn
die Mückenschwärme sind derart aufdringlich, daß
man ständig in Bewegung sein muß u. selbst nachts
sind sie derart lästig, dass man kaum Schlaf findet.
Oh, wie ich dieses Russland schon hassen gelernt habe.
In keiner Jahreszeit ist's hier angenehm.
              Ein schwerer Kampf liegt hinter uns.
Auch Du wirst in den Zeitungen von dem Kessel am Wolchow
gelesen haben. Es war grausam, noch nie habe ich den Krieg so
hart empfunden. Wir hatten einen Abschnitt gehabt nur
im Sumpfmoor u. tiefen Sumpfwald. Wochenlang sahen
wir nichts als diesen Sumpf, Baustämme u. über uns der
Himmel. Es war ein Kampf der Infantrie. Der Russe hatte
schon im Winter quer durch das Gebiet primitiv eine
Feldbahn gebaut. Das war der Lebensnerv. Was sich hier
für harte Kämpfe abspielten, was es für grauenhafte
Bilder gab, läßt sich nicht beschreiben. Eng hatten wir
den Feind zusammen gedrängt, so daß er selbst durch
Fallschirme keine Verpflegung mehr bekommen konnte, u.
doch haben die Hunde geschossen, bis man endlich vor ihnen
stand. Wir hatten ein Lager erreicht, nachdem der Russe
an die tausend Zivilisten verschleppte u. in dem noch ganze
Waggons mit Verwundeten waren. Hier habe ich Verhungerte

u. halb verhungerte Frauen und Kinder gesehen, wandelnde Skelette, es
war gräßlich. Wochenlang haben sie Gras u. Blätter gegessen
u. das Schlimmste, ich sahe, wie sie Menschenfleisch
kochten u. zahlreiche Leichen bewiesen uns das anschaulich.
Auch 3 Kameraden von uns sahen wir, die wohl in Gefangen=
schaft gerieten, Fleischstücke heraus geschnitten. Nein, man
konnte das Grauen bekommen. Verhungernde schrien nach
Brot, Verwundete nach Wasser, aber wir mußten weiter. Es
wurde wenig Pardon gegeben. Als der Feind ganz eng zusammen
getrieben war, stürzten die Stukas darauf. An die 40.000
Tote mag der Russe gelassen haben. Unter den Gefangenen wieder
junge Mädel u. auch Knaben. Diese Pestbeule ist nun
Gottseidank aufgeschnitten. Nun liegen wir in der Nähe
von Novgorod am Ilmensee u. erwarten den neuen Kampf.
Die Meldungen vom Süden u. vom Atlantik sind doch
sehr beachtlich. Wenn man so im Kampfe steht, zweifelt
man ja daran, daß wir den Russen in diesem oder
nächsten Jahre besiegen. Aber man weiß ja nie, wie es
im russischen Hinterland aussieht, denn das ist immerhin
maßgebend u. eine Kapitulation kann über Nacht kommen.
Aber dann, Hansi, könntest Du mal ein Schreien hören,
vor Freude. Ich käme mir vor, wie aus einem Zuchthaus
befreit zu sein. Nach England würde ich 100 mal lieber
mit ziehen. Aber wie es auch immer sei, unsere gerade
Gesinnung u. ein starkes Herz, wollen wir stets bemüht sein
zu behalten. Wie sangen wir doch als Pimpfe?
              Kämpfen u. Sterben, was ist dabei?
              Wenn nur mein Vaterland, wenn
              Deutschland frei!
Und das ist für heute alles. Ich wünsche Dir
recht viel Gutes. Herzliche Grüße!
                            Dein Otto


© Horst Decker


   


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