Brief aus Martrednitz an Geschäftsfreund in Gießen, 31. Dezember 1945

Wörtliche Abschrift, der Brief kam am 15. Januar in Gießen an.

31.12.44

Sehr geehrter Herr Kreuter!

Zum Jahresschluß drängt es mich, Ihnen einmal wieder zu schreiben
und Ihnen, Ihrer werten Familie und Ihrem Unternehmen von Herzen
alles Gute zum neuen Jahr zu wünschen. Möge uns 1945 den siegreichen
Frieden bringen! In diesem Wunsch vereinigen sich wohl die meisten
unserer großen und kleinen Wünsche.

Wie möge es Ihnen dort in Giessen inzwischen ergangen sein! Sie können
sich wohl denken, dass wir, meine Frau und ich, immer zuerst an Sie
gedacht haben, wenn der Wehrmachtsbericht von einem Angriff auf Giessen
berichtete. Wir hoffen zuversichtlich, dass Ihnen, Ihren Lieben und
Ihrer Fabrik keinerlei Schaden geworden ist, und bitten Sie, wenn es
Ihre Zeit erlaubt, uns doch, wenn auch nur kurz, über Ihr Ergehen zu
berichten.
Ich bin immer noch beim Wehrbezirkskommando, sollte schon viele Male
abgestellt werden, bin aber doch wohl unentbehrlich. Ich kann nicht
klagen, muß sogar bekennen, dass es mir als Soldat niemals besser gehen
könnte, als hier, wo ich zu Hause sein darf. Bomben sind in der Nähe,
besonders in Eger und Karlsbad auch schon gefallen, gottlob in Markt-
redwitz aber nicht.

Meine Älteste ist zur Flak einberufen. Sie ist seit Oktober in
der Nähe von München eingesetzt. Während der Ausbildungszeit
gefiel es ihr sehr gut. Jetzt lassen die Mädel aber doch alle
etwas die Köpfe hängen. Es ist für ein Mädel ja nicht so einfach
Tag und Nacht in Erdlöchern zu sitzen usw. Die Zweite haben
wir zur Zeit bei uns. Sie hat über das Fest Urlaub bekommen.
Wie ich Ihnen schon schrieb, war sie in einer Fabrik im Elsass
als Laborantin beschäftigt. Diese Fabrik ist nach Laufenburg/Baden
verlagert worden. Dort hört man auch mehr als deutlich den
Kanonendonner. Ich möchte meine Tochter ja gern hier behalten,
aber was würde der gute Treuhänder dazu sagen. Außerdem wäre
die Einberufung zur Flak sicher.
Geschäftlich kann ich Ihnen heute garnichts Neues berichten.
Da man nicht mehr aus dem Nest Marktredwitz hinauskommt, erfährt
man auch nichts. Interessant für Sie wäre aber, dass Herr Henk,
der Besitzer des Bahnhofhotels in Marktredwitz, vorige Woche
den 80. Geburtstag und gleichzeitig das 50-jährige Geschäfts-
jubiläum gefeiert hat. Sie haben ja so manches Mal dort über-
nachtet. Der junge Henk, den Sie doch sicher kennen, ist vor
etwa 1/2 Jahr auch zur Truppe gekommen. Er ist jetzt Uffz. bei
einer bespannten Artillerie-Abteilung und kommt demnächst ins
Feld. Dieses Glück hätte mir auch geblüht, wenn ich nicht sage
und schreibe 12 Tage zu alt wäre. Jahrgang 97 mußte weg, ich bin
Dezember 96.
Nochmals alles Gute, verehrter Herr Kreuter, grüßen Sie die Ihren
und Ihre mir bekannten Mitarbeiter von mir und seien Sie selbst
an alter Verbundenheit herzlich gegrüßt von
Ihrem
Martin Gerndt


Nach Vermerk wurde der Brief am 17. 1.1945 von Herrn Kreuter beantwortet.

© Horst Decker