Briefe Gießen, Entnazifizierung

Briefkonvolut von Sohn an Vater, betrifft Wiederaufbau Gießen und Entnazifizierung

geschrieben 12. bis 15. August 1946

(Nachlass 'Josef Kreuter, Farben- und Stempelfabrikant, Frankfurter Str. 131, Gießen')
Die Briefe wurden vom Sohn an den in einer Kur weilenden Vater geschrieben. Er beschreibt in Kurznotizen die Ereignisse innerhalb der Firma und Fortschritte bei der Beseitigung der Bombenschäden, sehr ausführlich geht er auf die Gerichtsvrhandlung ein, die sein Entnazifizierungsverfahren abschließt.

Gießen, 12. Aug. 1946

Lieber Vater!
Vor allem bestätige ich Dir Muttis glückliche Rückkehr
nach hier und freue mich zu hören, dass es Dir besser geht und Dir
die Kur gut bekommt. Schön ist es auch, dass es Mutti dort gut gefal-
len hat. Weiterhin wünsche ich Dir gute Genesung und von Herzen alles
Gute.

Bevor ich Dir nun den mir übergebenen Brief beantworte,
möchte ich Dir kurz von der heute stattgefundenen Verhandlung der
Spruchkammer gegen mich berichten.

Die Anklage lautet auf Grund meiner Zugehörigkeit vor 33
und meiner Tätigkeit als Zellenleiter auf Gruppe II belastete als
Beteiligter an der Errichtung der Gewaltherrschaft der NSDAP.
Rechtsanwalt Dr. Möller hat mich vertreten, Belastungszeugen sind nicht
aufgetreten, als Entlastungszeugen waren vor Gericht:

Herr Schäfer, Herr Wagner, Herr Kalbfleisch, Herr Frees
Frl. Oberheim und Frl. Kisseberth. Eidesstattliche Versicherungen über
meine politische Toleranz und eine nicht durchgeführte Propaganda
meinerseits lagen vor von Herrn Saupe und Herrn Kessler.

Als Beweismaterial war ferner erbracht:
1 eidesstattliche Versicherung des Blockleiters meiner letzten Orts-
gruppe, dass ich nicht mehr als den Mindestbeitrag zahlte, sowie Aus-
züge aus Reiseberichten nach 33 im In- und Auslande, dass ich Juden
besuchte und mit ihnen geschäftlich verkehrte, sowie Privatrechnungen
von mir, dass ich noch nach 33 von jüdischen Firmen Wein kaufte.

Die Zeugen haben sehr gut entlastend für mich ausgesagt
und jeder Einzelne war bestrebt, meine politische Tätigkeit als einen
Mangel an Beteiligung hinzustellen und mich weitgehendst zu entlasten.
Trotzdem beispielsweise Herr Schäfer entlastend anführte, dass ich ihm
auf Grund entsprechender Denunzierung in Schutz nahm und ihn warnte,
in die Partei einzutreten trotzdem auch Hans Frees sehr nett für mich
aussagte und die Unbelastung Lottes ins Feld führte und gleichfalls
aussagte, dass ich ihn an dem Eintritt in die NSKK-Formation hinderte,
konnte alle Entlastung nicht wesentlich das Urteil beeinflussen.

Nach der Zeugenaufnahme und meinen eigenen Schilderungen
ließ der öffentliche Ankläger die Anklage auf Gruppe II fallen und
stellte Antrag auf Gruppe III. Höchstsühne 3 Jahre Bewährungsfrist und
RM 5000,-- Geldstrafe.
Dr, Möller hat ein glänzendes Plaidoyer gehalten und
auf die Mindeststrafe in Gruppe III, 1 Jahr Bewährungsfrist plaidiert.

-Blatt 2-

Das Urteil lautet:
2 Jahre Bewährungsfrist, RM 5000,-- Geldstrafe, Sühne-
maßnahmen nach §16 Absatz 9 und 10, Art. 17, Tit. 1,2 und 3.
Diese besagen, dass ich für die Zeit der Bewährungsfrist Wohnungs-
und Aufenthaltsbeschränkungen unterliege, Approbationen, Konzessionen
und Berechtigungen, sowie das Recht einen Kraftwagen zu halten, ver-
liere, dass mir untersagt ist, ein Unternehmen als Inhaber oder
Gesellschafter zu leiten, oder zu beaufsichtigen, eine Beteiligung
zu erwerben und nicht in selbstständiger Stellung anders als in ge-
wöhnlicher Arbeit beschäftigt zu sein usw.

Ferner:
Mich an einem Unternehmen zu beteiligen und soweit Beteiligung vor-
handen ist, wird diese gesperrt oder es ist ein Treuhänder zu be-
stellen. Die Spruchkammer hat zu bestimmen, welcher Teil des erziel-
ten Geschäftseinkommens an mich auszuzahlen ist. Dies sind in groben
Zügen die Begleitumstände.

Rena wird Dich im grossen ganzen über die Angelegenheit
unterrichten und ich werde ihr sowohl einen Auszug meiner eigenen
Verteidigungsansprache, sowie Auszüge aus den Zeugenaussagen Frees,
Kisseberth und Oberheim, soweit sie hier vorliegen, die Du alsdann
eingehend untersuchen kannst.

Lieber Vater, das Urteil ist hart, aber es hätte ja schlimmer kommen
können. Jedenfalls bin ich die Sache los und bin überzeugt, dass Du
auch darüber hinwegkommst. Das Wichtigste dürfte wohl sein, dass sich
vorläufig an dem Verhältnis unserer gemeinsamen Tätigkeit hier nichts
ändern wird. Du kennst im übrigen meinen gesunden Optimismus und weißt
dass mich weder das Urteil, noch die Bestimmungen irgendwie erschüt-
tern können.

Nicht 1 Minute mehr als dringend notwendig wird versäumt
und nicht eine Maßnahme mehr oder weniger ausser acht gelassen, um
nicht tatkräftig zu helfen am Wiederaufbau.

Mutti war natürlich erst etwas erschüttert über das Ur-
teil, aber nachdem es mir gelang, sie zu überzeugen, dass alles beim Alten bleibt, fin-
det auch Sie sich damit ab und nun darfst Du auch wissen, dass dies
der Grund für ihre verfrühte Abreise war, sonst wäre sie ja gerne
über das Wochenende dort geblieben.

Also lieber Vater mache Dir bitte keine unnötigen Gedanken,
es ist kein Grund zur Freude und absolut kein Sieg, aber ich
persönlich bin froh, es hinter mir zu haben. - Alles andere wird Dir
dann Rena, die ja auch der Verhandlung beigewohnt hat, mündlich be-
richten.

Deinen ausführlichen Brief werde ich Dir morgen beantwor-
ten, Du wirst verstehen, dass ich heute durch den versäumten Vormittag
allerhand nachzuholen habe und es wird Dir lieber sein, wenn ich erst
einmal die dringendsten Rückstände aufarbeite.

Mit nochmals herzlichen Wünschen für Deine weitere
Genesung bin ich
Dein Fritz

(Anm.es folgt eine handschriftliche Ergänzung der Mutter des Schreibers und Ehefrau des Briefempfängers)

Lieber Joseph, nun sind die aufregenden 12 Tage
vorüber, u. wir alle sind froh, daß wir sie Dir
ersparen konnten, denn schön ist so eine
Wartezeit nicht. Zwei Jahre sind lang, aber
sie gehen vorüber. Die Hauptsache ist, daß Fritz
bleiben kann. Herr Heineburg meinte, wir soll-
ten nur zufrieden sein. Herr Möller hat groß-
artig gesprochen u. den 'alten Stempelkreuter'
also Dich, in ein großartiges Licht gesetzt, und
Fritz, als in Deinen Fußstapfen weitergehend,
hingestellt. Fritz wird Dir später sicherlich
alles sagen, Rena kann Dir schon manches
erzählen, sie war dabei. Sie kommt Donners-
rstagabend oder Freitagvormittag. Du hörst noch Ge-
naues.
Die Tage bei Dir waren herrlich, wie schön,
das spürte ich erst, als ich wieder hier ankam
u. Großmutter u. Rena mich mit all dem un-
wichtigen Dingen abends überschütteten.
Aber Du siehst ein, daß ich zurück mußte. Ich
konnte doch Fritz heute nicht allein lassen, gell? Vielleicht
springen später ein paar Tage heraus. Tausend Grüße u. weiter
so gute Erholung! Du bist sicher nun auch ruhiger,
wo es hinter uns liegt, gell? Einen Kuß von
Deiner Erna


Gießen, 13. Aug. 1946

Lieber Vater!
Im Nachgang zu meinem gestrigen Schreiben, beantworte
ich Dir heute im Telegrammstil, Dein mir von Mutti übergebenes Schreiben vom 8. des Monats.

Koch hat inzwischen weitere Zahlungen geleistet. Der Kontostand
beläuft sich im Augenblick auf RM 7844,--. Anbei die Auskunft von
Creditreform über Koch, die Dich sicherlich interessieren wird.
Wegen seiner privaten Lieferung habe ich gleichfalls nochmals
bei ihm angefragt und möchte wissen, wie er sich dazu äussert.

Heizraum.
Der Anschluss der Maschinen durch Balser erfolgt sobald wir von
Herrn Grün den erforderlichen Leitungsdraht zur Durchführung der
Leitung zum Heizraum bekommen. Mit den Heizungen sind wir dort ziem-
lich beigekommen. Müller ist seit gestern wieder im Dienst,
Herr Spengler geht diese Woche für 3 Tage in Urlaub.

Glas.
Wadenpfuhl hat gestern den größten Teil der gelieferten Scheiben
verglast, jedoch ging ihm dabei der Kitt aus. Wir haben weiteren
Kitt prompt beschaffen können, sodass heute weitergearbeitet wird.
Einen weiteren Glasschein über 10qm habe ich mit List und Tücke von
der Bezirksstelle bekommen und Herrn Baum übergeben. Herr Baum wird
heute oder morgen kommen und mit Mutti besprechen, welche Scheiben,
besonders in der Wohnung, worwiegend in Stand zu setzen sind.

Kartoffel.
Die Lieferung von Eschwege ist noch nicht eingetroffen und ich werde,
wenn nicht in den nächsten Tagen, wie nochmals von Herren Leimbach
mitgeteilt, das Auto hier eintrifft, entsprechend reklamieren.

Bezüglich Möbel ist vorerst bestellt:
1 Schreibtisch mit Sessel, 1 Rollschrank, und
1 Aktenständer.
Weitere Aufträge zu erteilen steht Dir nach Deiner Rückkehr persön-
lich anheim.

Privataufträge.
1 Flasche violette Farbe - 100 Gramm - für Dr. Lau hatte ich mit auf-
gegeben und hatte angenommen, dass sie mit eingepackt worden wäre.
Ich werde diese Rena mitgeben.
Den neubestellten Faksimilestempel habe ich bereits gestern sofort
in Arbeit nehmen lassen, damit ihn Rena gleichfalls mitnehmen kann.

Bofinger.
Die Angelegenheit ist ja nicht so eilig und wie Dir bereits geschrie-
ben, werden wir gelegentlich nochmals Rückfrage bei Mitgliedern der
früheren Bezirksgruppe halten.


-Blatt 2 -

Benzin.
Bei der geringen Zuteilung wird der Verkehr auf das Notwendigste
beschränkt. Ich hoffe zuversichtlich, dass wir noch einmal eine
kleine Zuteilung bekommen, um wenigstens die Leisten bei Ruhl
abholen zu können.

Landpacht.
Diese Angelegenheit stelle ich bis zu Deiner Rückkehr zurück.

Kalbfleisch jun..
Der Brief wird in Deinem Sinne beantwortet.

Brief Koch-Hein.
Den Brief lege ich in Deinen Korb und überlasse Dir die endgültige
Erledigung. Generell möchte ich hierzu sagen, dass wir in jedem
Falle genau wie die Firma Koch auf die Zahlung des Betrages be-
stehen würden.

Urlaub.
Z.Zt. ist Herr Haase 3 Tage, Frl. Kisseberth 4 Tage, Herr Spengler
3 Tage und Mootz in Urlaub.
Im Betrieb ist jetzt eine von den Feilerinnen, hier Inge Klein
in Urlaub.

Sonstige Reparaturen.
Der Hof ist fertig gepflastert und wieder tadellos sauber.
Meine Bemühungen um Ziegel sind bis jetzt noch immer erfolglos,
infolge eines Sonderbau-Programmes in Giessen; was das ist, er-
fährt man leider nicht.

Klingelmeyer.
Sowohl Dein Freund Klingelmeyer wie Lenz und Ruhl liefern die
angeforderten Leisten ohne Hindernisse, jedoch habe ich für Herrn
Klingelmeyer erneut einen Holzschein über 10qm neu beantragen
müssen, ich hoffe, dass derselbe nunmehr hereinkommt.

Geld.
Die Beträge für Miete und Gehalt Keienburg habe ich auf Grund
eines von Mootz ausgestellten Barschecks abheben lassen und Mutti
übergeben. Die Quittung über Miete hat Mutti unterschrieben und
ich habe diese der Buchhaltung weitergereicht.

An Onkel August werde ich wegen Essig schreiben.

Betriebsratswahl.
Donnerstag dieser Woche finden die Betriebsratswahlen statt, bzw.
die Wahl zu der Arbeitervertretung, die aus 5 Vertretern besteht.
Da ja auch wir 'Nazis' wählen dürfen, haben wir in unseren Wahlvor-
schlägen eingereicht:

-Blatt 3 -

1. Herr Peter Schäfer
Herr Franz Stroh
Herr Karl Mootz
Herr Kurt Saupe
Herr Ernst Kalbfleisch

2. Herr Peter Schäfer
Herr Kurt Saupe
Herr Franz Stroh
Herr Albert Günter
Frl. Anna Kisseberth

Wir wollen damit vrhindern, dass B. und Hoffman mitgewählt
werden.

Ausser Herrn Saupe, Zörb und Schneider sind gestern die gesamten
Graveure um 1/2-4 Uhr zu Metallarbeitergewerkschaft ohne vorherige
Meldung abgehauen. Selbstveständlich werden wir die Zeit in Ab-
zug bringen. Am tollsten finde ich, dass auch Hoffman, der mit
den Metallarbeitern nichts zu tun hat, gleichfalls mitging.
Ich werde mir heute erlauben, ihn dieserhalb durch Herrn Keienburg
einmal fragen zu lassen.

Es bedarf wohl keiner besonderen Versicherung, dass ich mir alle
Mühe gebe, in Deinem Sinn hier weiterzumachen und Du darfst über-
zeugt sein, dass trotz Spruchkammer alles seinen gewohnten Weg
weitergeht.

Ich freue mich wiederholt aufrichtig, dass es Dir besser geht und
Dir die Kur gut bekommt. In diesem Sinne wünsche ich Dir auch für
die 2. Hälfte Deiner Kur alles Gute und beste Genesung.

Mit den ebsten Grüssen auch von der Belegschaft und dem ganzen
Hause bin ich besonders herzlich
Dein Fritz


Gießen, 15. Aug. 1946

Lieber Vater!
Nachdem ich Dir ziemlich ausführlich Mitteilung
machte, glaube ich mich heute kurz fassen zu können. Ich freue
mich, anlässlich Deines Anrufs festgestellt zu haben, dass Dich
das Urteil nicht erschüttern konnte und Du mit mir in dieser
Hinsicht seiner Meinung bist.

Geschäftlich ist nichts Wesentliches zu berichten,
es geht nach wie vor alles seinen geregelten Gang.
Heute fanden die Betriebswahlen statt, worüber Dir gleichfalls
Rena persönlich Mitteilung machen kann. Wir haben jedenfalls ge-
tan was wir konnten und wir dürfen überzeugt sein, dass bei
geringerer Aktivität das Resultat für uns noch ungünstiger
ausgefallen wäre.

Aus der einliegenden Skizze, auf einem der Original-
Wahlzettel kannst Du alles Nähere ersehen.

Ich wünsche Dir von Herzen weiterhin alles Gute,
vor allen Dingen baldige Genesung und bin heute wieder mit herz-
lichen Grüssen
Dein Fritz

(Anm.:die genannte Skizze lag nicht mehr bei

© Horst Decker