Brief aus Bonn nach Gießen, Beschreibung der Lebensverhältnisse

geschrieben am 30. Juli 1946

(Nachlass 'Josef Kreuter, Farben- und Stempelfabrikant, Frankfurter Str. 131, Gießen')

Bonn, 30. 7. 46

          Liebste Mutti!
        Gestern, Montag überraschten mich Herr Wolter
und Köchenik mit ihrem Besuch und habe ich
mich sehr gefreut durch diese etwas von Euch zu
hören. Schreiben scheint bei Euch ja verpönt zu
sein, denn auf alle meine Briefe habe ich nur ein
kurzes geschäftliches Schreiben wegen der vollziehenden Unter-
schriften aus Giessen bekommen. Es freut mich
von ganzem Herzen, dass Vater nun nach Wildungen
abgereist ist und sich hoffentlich recht gut erholt.
Auch dass Fritz nach Nauheim kommt, ist fein und
wird er von dort ebenfalls eine Besserung seines Ge-
sundheitszustandes mitbringen. Nun musst Du auch
noch weg, liebe Mutti und ebenfalls dringend, um
Deinen Nerven und Deinem geschwächten Körper
einmal Ruhe und Entspannung zu geben. Wenn
die Zeiten in puncto 'mangare' besser wären,
würde ich sagen komm' doch einmal zu mir. Ruhe,
Balkon, Garten, Sonne wenn sie scheint. den Wald
ganz in der Nähe, ist bei mir vorhanden. Ein
ganz ruhiges Haus, auch kann man über Siegburg
jetzt wieder sehr gut fahren und in 5-6 Std. die
Strecke bequem bewältigen, wie ich hörte. Aber das
Essen! Hier ist es schaurig. Täglich stehen die Not-
schreie der Vertrauensärzte, Aufrufe der Parteien in
der Zeitung, um Abhilfe gegen die hiesige Hungersnot
zu schaffen. Für Eure Kartoffeln danke ich Euch und
dies ist noch zu banal ausgedrückt, Hände und Füsse
müsste man küssen vor Dank. Geheult habe ich

wie ein dummes Gör, als ich um 1/2 10:00 morgens
vergeblich ohne Brot, ohne Kartoffeln, ohne Nährmittel
und ohne Gemüse nach Hause kam und fand in
höchster Not Eure Kiste mit Kartoffeln vor. Ich hätte
nichts zu essen gehabt. Nun habe ich mir Butter
1/2 Pfund für 100,- RM gekauft und esse Kartoffeln in jeder
Form. In 14 Tagen habe ich an Gemüse bekommen:
1 Pfund dicke Bohnen, wenn die gekocht sind, reicht es
nicht für 1 Malzeit und 2 Köpfchen Indiviensalat.
So nun kannst Du Dir denken, wie einteilen? Ich
besitze nicht ein Gramm an Mehl, Gries, Grütze etc.
weder eine Suppe oder sonst etwas kann ich ans Kochen
oder ans Gemüse tun! Herrliche Zustände! Die Preise
a.d. schwarzen Markt steigen ins Unermessliche, wenn Du
etwas bekommst u. jeder verkauft Klamotten, um Nahrungs-
mittel zu erstehen, um nicht zu verhungern. Wann Frau
Schirm u. ob sie nach dort kommt, ist noch unbestimmt,
da sie für Anneliese keinen Ferienaufenthalt auf dem Lande
ermitteln konnte. 2 von den Kunden sind nun in Giessen und
bleiben erst mal da. Frau Schön kann sie hier halt satt bekom-
men. Wenn Du nun etwas für mich haben solltes an Nähr-
mittel, liebste Mutti, dann schick es mir doch per Express. Die
Kartoffeln waren auch in 2 Tagen da, vielleicht habt ihr einen
Wirsing oder Weisskohl im Garten übrig, der hält sich ja
lange oder Schäfer bringt mal einen. Ich würde nicht darum
bitten, wenn die Not nicht so gross wäre. Augenblicklich
bin ich sehr elend, habe immer Temperatur und weiss nicht
woher. Um 12:00 kommen die Herren wieder und bringen noch
ein paar Sachen, die Wolter bei mir abstellt und nehmen
den Brief mit. Anschliessend gehe ich wieder ins Bett,
da ich mich hundeelend fühle. Was es ist, ich weiss
es nicht. Wird es nicht besser, muss ich zum Arzt gehen.

Ich hoffe nun von ganzen Herzen,
dass es Dir, liebes Muttilein, Gross-
mutter und Renalein recht gut
gehen möge, den Umständen
angepasst und freue mich, wenn
ich bald einmal von Euch
hören werde. In der Zwischenzeit
wird wohl mein Expresspaket
für Vati und Fritz auch ange-
kommen sein. Durch Kettner habe
ich auch noch nichts bekommen,
da aus der versprochenen Fahrt
nichts wurde, da sein Auto kaputt
sei und bis heute noch nichts von
hören lasse. Ich mag auch
nicht wieder hingehen, mir liegt
das um gutes Wetter bitten nicht,
lieber verzichte ich. Seit ich von
Euch weg bin, habe ich ausser

diesen Sauerkirschen noch kein
Obst gesehen, geschweige gegessen.
Frau Scherer ist eine rührende
Seele, jetzt hat sie mich zum Essen
eingeladen. Kartoffelklöse und
Sauerbraten ( Pferdefleisch, welches sie
auf ihre Wohlfahrtszuteilung bekam).
Es hat wunderbar geschmeckt.
Wo sie kann, hilft sie, aber sie hat
ja auch nichts bei 4 Kindern, die
einen gesunden Appetit entwickeln.
     So, nun habe ich genug geschrieben.
Ich grüsse Euch alle von ganzem
Herzen, besonders das Geburtstags-
kind, unseren Fritz u. sage ihm doch,
wenn er mir etwas besorgt hätte, soll
er es mir in das Paket tun.
      Du, liebste Mutti, alles Gute und
tausend Grüsse in steter Dankbar-
keit von
          Deiner Leni

© Horst Decker