Aufsatz von Marlies Strecker

Marlies Strecker war Schülerin in einer Frankfurter Mädchenschule. Der Aufsatz stammt vom 21. August 1947. Er ist unter dem Gesichtspunkt zu sehen, dass die Lebensmittelversorgung in Deutschland äußerst prekär war. Insbesondere galt das für Stadtfamilien.
Die Lebensmittelversorgung war natürlich auf dem Land deutlich besser. Zwar erhielten alle Bürger die gleichen Lebensmittelzuteilungen, aber die Landbevölkerung saß an der Quelle und dort wurde so manches abgezweigt. Während die Stadtbevölkerung hungerte, sprechen viele ältere Landbewohner davon, von der Not gar nichts mitbekommen zu haben. Wohl der Stadtfamilie, die Verwandte auf dem Land hatte, insbesondere, wenn diese von Beruf Bauern waren.
Aber das Land hatte andere Probleme, viele ehemaligen Landarbeiter oder Bauernsöhne waren noch in Kriegsgefangenschaft. Zur Ernte, die ja überwiegend mit Menschenarbeit eingefahren werden musste, fehlten die Arbeitskräfte. Und wo erwachsene Arbeitskräfte fehlten, da mussten notfalls Kinder einspringen. Die Herbstferien, damals auch Ernteferien genannt, waren daher bereits im 2. Weltkrieg so gelegt worden, dass sie in die Haupterntezeit fielen und die Kinder als Erntehelfer eingesetzt werden konnten.
In der Nachkriegszeit ergab sich so die Symbiose, Stadtkinder konnten Verwandten auf dem Land bei der Ernte helften und sich bei dieser Gelegenheit wieder einmal richtig satt essen.

Die seinerzeit gültige Orthografie und Interpunktion wurde belassen!


Ferienerinnerung

Marlies Strecker 21.August 1947

Als ich am letzten Tag vor den Ferien aus der Schule nach Hause kam, war ein Brief von meinem Großvater angekommen. Er schrieb mir natürlich, daß ich in den Ferien zu ihm kommen dürfte. Gleich noch am selben Tag fuhr ich an den Bahnhof und holte mir die Fahrkarte nach Wächtersbach im Spessart, denn am nächsten Tag sollte es ja schon losgehen. Das Kofferpacken besorgte meine Mutti. Die Nacht verging schnell, und endlich war der langersehnte Tag da. Ach, die Fahrt war wunderschön. Man hatte Zeit, sich die schöne Natur genau anzusehen. Ich fuhr an gelben Kornfeldern, an grünen Wiesen, an Dörfern und kleinen Städten vorbei. Mir tat es leid, als der Schaffner 'Wächtersbach' rief, und ich aussteigen mußte. Aber schon kam meine Tante und holte mich ab. Nun sollten die schönen Tage beginnen. -
Am zweiten Tag ging ich mit auf den Acker. Oh, das war eine Freude. Ich hatte mit meiner Cousine Margot die Aufgabe, die Garben in Haufen aufzustellen. Diese waren manchmal sehr widerspenstig und stachen uns in die Hände und Beine. Kaum hatten wir einen Haufen fertig, so fiel er wieder zusammen. Aber Übung macht den Meister. Allmählich ging es schon besser. Plötzlich schrie Margot auf:' Eine Schlange, eine Schlange'. Tatsächlich, ein solches Ding hatte ich auch noch nicht gesehen, ich glaube, es war eine Blindschleiche.
Nach beendeter Arbeit sahen wir uns unser Werk nochmal an und waren zufrieden. So ging es Tag für Tag, und die Woche verging wie im Fluge. Wir planten dann für den Sonntag einen Waldausflug. Es wurde ein herrlicher Tag. Wir verlebten den ganzen Tag im Freien. Zu hungern brauchten wir auch nicht, denn die Magd hatte uns einen großen Rucksack Proviant mitgegeben. Wir Kinder spielten im Wald Versteck, und später suchten wir Beeren. Der Tag verging zu schnell, und wir mußten nur zu bald an den Heimweg denken, denn das Vieh mußte noch gefüttert werden. Ich durfte auch helfen. Es machte mir viel Freude, daß die Tiere so zutraulich zu uns waren, vor allem die Pferde und die Hühner.
So brachte uns die Zeit in Wächtersbach viel Abwechslung und mir tat es sehr leid, als sie zu Ende war.

© Horst Decker